Sardinen (Jura Soyfer)

Jura Soyfer, 1936, via DÖW (Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands)

Helli, mein Liebes, der Zweck meiner Überführung hierher, ist mir bisher nicht bekannt gegeben worden (…)  Wenn du wirklich Ende Juni nach London fährst, ist dieser Brief vielleicht ein Abschied von dir (…) Seit du mir von deiner bevorstehenden Englandreise geschrieben hast, hab ich nicht aufgehört zu hoffen, dass ich noch rechtzeitig frei werden möchte (…) Wir hätten uns die letzten Wochen sehr schön gemacht, nicht wahr? Und hätten versucht möglichst viel von dem Glück einzufangen, das wir versäumen mussten, und versäumen werden. Liebe vor Torschluss war doch immer unsere Spezialität…
             (Jura Soyfer an Helli Ultmann, am 15. Juni 1938, via Soyfer Archiv)

Liebe Marika, ich habe versprochen, dir zu schreiben, sobald Jura frei ist. Nun ist er frei, aber auf andere Art. Er ist nach seiner Entlassung am 24.1. 39 mit Typhusfieber dort in Weimar ins Spital gekommen & am 15.2. daran gestorben. Ich weiß nicht, ob seine Mutter es weiß, schreib ihr nicht. Ich bin vorläufig auch noch am Leben, hoffe aber, es ebenso schnell abzuschütteln.
             (Helli Ultmann an Marika Rapoport, am 6.3.1939, via Soyfer Archiv)

Ich esse Sardinen in/Öl
und denke an/Jura Soyfer. Er war zur
falschen Zeit am falschen Ort. Gargellen, Neunzehn-
hundertachtunddreißig. Die Sterne stehen schlecht im März; Sie
holen Geier vom beengten/Himmel. Einer ist vor Jahren (angeschossen)
auf ein Dach ins/Tal gestürzt; hat es fast durchschlagen. Ein Täter wurde nie gefasst, was keinen wundert, weil in jedem Haus (dort oben) Jäger wohnen
und wo keiner wohnt, da wohnt ein Wilderer und Jura Soyfer war ein Wild (auf
der Flucht); Sein Plan: mit Skiern in die Schweiz übers Schlappiner Joch. Im
Rucksack: eine Dose mit Sardinen in/Gewerkschaftszeitung eingewickelt. Sehr verdächtig. Und blutjung, der übereifrige Gendarm. Sagt, den Ansturm (wegen eines Geiers) könne er sich nicht erklären. Sagt, TV-Anstalten aus der Schweiz,
aus Österreich und Deutschland wären extra angereist, wegen eines
toten/Vogels. Sagt, der Akt (zum Vogel) sei noch schmaler als
sein kleiner Finger und dass der noch zulegt (zwinkert), 
             wäre wohl nicht anzunehmen —

 

Während ich Sardinen kaue
(zartes Rückgrat bricht ganz leicht), denke ich
an/Jura Soyfer. Ob er sie gegessen hat? Ist natürlich rein
rhetorisch. Häftlinge behalten schließlich nie ihr Zeug (noch dazu
in/Hungerzeiten). Und dann ausgerechnet Sardinen. In einer dünnen Weiß-blechdose, scharf genug für einen/Abgang. Viele haben sich davon gemacht.
Mit Gift, mit Schnüren und so weiter. Jura nicht. Er hat bis zum Ende durch-gehalten. Geschrieben (Briefe), das bekannte Dachau-Lied: Stich den Spaten
in die Erde/Grab dein Mitleid tief hinein/Und im eignen Schweiße werde/
Selber du zu Stahl und Stein. 
Und wenn Hunger dich quält
oder Durst, denk’ an alles, Kamerad,
             nur nicht an/Sardinen 
 —

 

Natürlich denkst du
an/Sardinen (ständig); gefangen im Meer
von/Porto, wie Jura gefangen im/Rätikon; von ganz oben
herunter (ins Tal) gebracht, ins Dorf nach/Gargellen. Von dort aus
nach/Bludenz; von dort aus nach/Feldkirch, von dort aus nach/Innsbruck,
von dort aus nach/Dachau, von dort aus ins KZ nach/Buchenau und weiter ins
Spital nach/Weimar, wo Jura stirbt; lange vor dem Ablaufdatum von Sardinen,
die (nachdem sie einmal ausgenommen, händisch eingelegt in/Öl,
verfeinert mit Gewürzen und Gemüse), mindestens fünf
             Jahre ab/Verpackungsdatum halten —

 

Einhundert Jahre später 
oder tausend (falls es noch Sardinen gibt):
Würden wir sie wieder essen und an/Jura Soyfer denken? Oder hätten wir
alles, alles vergessen und blieben uns (zum Genuss allein) nur
             scharfe, zarte Sardinen — ?

Sardinen (Jura Soyfer), 2023                    Foto: Nuri Sardinen, eigenes Bild, 2023

Jura Soyfer (1912-1939) war ein österreichischer Schriftsteller des Widerstands, der sich nach dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland in die Schweiz absetzen wollte. Die Sardinen (als Reiseproviant) sind verbürgt, allerdings haben sie sich nicht in Juras Rucksack befunden, sondern in dem seines Freundes Hugo Ebner. Beide haben sich damals gemeinsam zur Flucht entschlossen und wurden auch gemeinsam aufgegriffen. Die Verknüpfung ihrer (hier auf eine Person reduzierten) Fluchtgeschichte mit dem illegalen Abschuss eines Geiers in St. Gallenkirch (2019) gründet in der Wahrnehmung, dass die Vernachlässigung von Natur- und Artenschutz in letzter Konsequenz auch Menschenrechte beschädigt (und umgekehrt).

Grundlage für den Text ist das “Über die Grenze”-Projekt des Jüdischen Museums in Hohenems, bei dem an 52 Hörstationen entlang der Radroute Nr. 1 (vom Bodensee in die Silvretta) Fluchtgeschichten erzählt werden. Parallel dazu gibt’s (leider nur zwei) hochkarätig besetzte Soyfer-Abende in Hohenems.

Über das Gutenberg-Projekt sind alle Arbeiten von Jura Soyfer kostenlos verfügbar. Besondere Empfehlung (für Freunde des Wiener Schmähs): Weltuntergang oder Die Welt steht auf kein’ Fall mehr lang.

Jura Soyfer, 1936, via DÖW (Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands)

Helli, mein Liebes, der Zweck meiner Überführung hierher, ist mir bisher nicht bekannt gegeben worden (…)  Wenn du wirklich Ende Juni nach London fährst, ist dieser Brief vielleicht ein Abschied von dir (…) Seit du mir von deiner bevorstehenden Englandreise geschrieben hast, hab ich nicht aufgehört zu hoffen, dass ich noch rechtzeitig frei werden möchte (…) Wir hätten uns die letzten Wochen sehr schön gemacht, nicht wahr? Und hätten versucht möglichst viel von dem Glück einzufangen, das wir versäumen mussten, und versäumen werden. Liebe vor Torschluss war doch immer unsere Spezialität…
     (Jura Soyfer an Helli Ultmann, am 15. Juni 1938, via Soyfer Archiv)

Liebe Marika, ich habe versprochen, dir zu schreiben, sobald Jura frei ist. Nun ist er frei, aber auf andere Art. Er ist nach seiner Entlassung am 24.1. 39 mit Typhusfieber dort in Weimar ins Spital gekommen & am 15.2. daran gestorben. Ich weiß nicht, ob seine Mutter es weiß, schreib ihr nicht. Ich bin vorläufig auch noch am Leben, hoffe aber, es ebenso schnell abzuschütteln.
     (Helli Ultmann an Marika Rapoport, am 6.3.1939, via Soyfer Archiv)

Ich esse Sardinen in/
Öl und denke an/Jura Soyfer. Er war
zur falschen Zeit am falschen Ort. Gargellen,
Neunzehnhundertachtunddreißig. Die Sterne stehen
schlecht im März; Sie holen Geier vom beengten Himmel. Einer
ist vor Jahren (angeschossen) auf ein Dach ins/Tal gestürzt; hat es
fast durchschlagen. Ein Täter wurde nie gefasst, was keinen wundert,
weil in jedem Haus (dort oben) Jäger wohnen und wo keiner wohnt, da
wohnt ein Wilderer und Jura Soyfer war ein Wild (auf der Flucht). Sein
Plan: mit Skiern in die Schweiz übers Schlappiner Joch. Im Rucksack: eine Dose mit Sardinen in/Gewerkschaftszeitung eingewickelt. Sehr verdächtig. Und blutjung, der übereifrige Gendarm. Sagt, den Ansturm (wegen eines Geiers) könne er sich nicht erklären. Sagt, TV-Anstalten
aus der Schweiz, aus Österreich und Deutschland wären extra an-

gereist, wegen eines toten/Vogels. Sagt, der Akt (zum Vogel)
sei noch schmaler als sein kleiner Finger und, dass
der noch zulegt (zwinkert), wäre wohl
     nicht anzunehmen —

 

Während ich Sardinen kaue
(zartes Rückgrat bricht ganz leicht), denke ich
an/Jura Soyfer. Ob er sie gegessen hat? Ist natürlich rein
rhetorisch. Häftlinge behalten schließlich nie ihr Zeug (noch
dazu in/Hungerzeiten). Und dann ausgerechnet Sardinen! In einer dünnen Weißblechdose, scharf genug für einen/Abgang. Viele haben
sich davon gemacht. Mit Gift, mit Schnüren und so weiter. Jura nicht.
Er hat bis zum Ende durchgehalten. Geschrieben (Briefe), das bekannte Dachau-Lied: Stich den Spaten in die Erde/Grab dein Mitleid tief hinein/
Und im eignen Schweiße werde/Selber du zu Stahl und Stein. 
Und
wenn Hunger dich quält oder Durst, denk’ an alles,
             Kamerad, nur nicht an/Sardinen 
 —

 

Natürlich denkst du an/
Sardinen (ständig); gefangen im Meer von/
Porto, wie Jura gefangen im/Rätikon; von ganz oben
herunter (ins Tal) gebracht, ins Dorf nach/Gargellen; von dort
aus nach/Bludenz; von dort aus nach/Feldkirch, von dort aus nach/
Innsbruck, von dort aus nach/Dachau, von dort aus ins KZ nach/
Buchenau und weiter ins Spital nach/Weimar, wo Jura stirbt; lange
vor dem Ablaufdatum von Sardinen, die (nachdem sie einmal ausgenommen, händisch eingelegt in/Öl, verfeinert mit 
Gewürzen und Gemüse), mindestens fünf Jahre
             ab/Verpackungsdatum halten —

 

Einhundert Jahre später
oder tausend (falls es noch Sardinen gibt): Würden
wir sie wieder essen und an/Jura Soyfer denken? Oder hätten wir alles, alles vergessen und blieben uns (zum Genuss allein) nur/    

             scharfe, zarte Sardinen — ?

Sardinen (Jura Soyfer), 2023       Foto: Nuri Sardinen, eigenes Bild, 2023

Jura Soyfer (1912-1939) war ein österreichischer Schriftsteller des Widerstands, der sich nach dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland in die Schweiz absetzen wollte. Die Sardinen (als
Reiseproviant) sind verbürgt, allerdings haben sie sich nicht in Juras Rucksack befunden, sondern in dem seines Freundes Hugo Ebner. Beide haben sich damals gemeinsam zur Flucht entschlossen und wurden auch gemeinsam aufgegriffen. Die Verknüpfung ihrer (hier auf eine Person reduzierten) Fluchtgeschichte mit dem illegalen Abschuss eines Geiers in St. Gallenkirch (2019) gründet in der Wahrnehmung, dass die Vernachlässigung von Natur- und Artenschutz in letzter Konsequenz auch Menschenrechte beschädigt (und umgekehrt).

Grundlage für den Text ist das “Über die Grenze”-Projekt des Jüdischen Museums in Hohenems, bei dem an 52 Hörstationen entlang der Radroute Nr. 1 (vom Bodensee in die Silvretta) Fluchtgeschichten erzählt werden. Parallel dazu gibt’s (leider nur zwei) hochkarätig besetzte Soyfer-Abende in Hohenems.

Über das Gutenberg-Projekt sind alle Arbeiten von Jura Soyfer kostenlos
verfügbar. Besondere Empfehlung (für alle Freunde des Wiener Schmähs): Weltuntergang oder die Welt steht auf kein’ Fall mehr lang.

Jura Soyfer, 1936, via DÖW (Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands)

Helli, mein Liebes, der Zweck meiner Überführung hierher, ist mir bisher nicht bekannt gegeben worden (…)  Wenn du wirklich Ende Juni nach London fährst, ist dieser Brief vielleicht ein Abschied von dir (…) Seit du mir von deiner bevorstehenden Englandreise geschrieben hast, hab ich nicht aufgehört zu hoffen, dass ich noch rechtzeitig frei werden möchte (…) Wir hätten uns die letzten Wochen sehr schön gemacht, nicht wahr? Und hätten versucht möglichst viel von dem Glück einzufangen, das wir versäumen mussten, und versäumen werden. Liebe vor Torschluss war doch immer unsere Spezialität…
(Jura Soyfer an Helli Ultmann, am 15. Juni 1938, via Soyfer Archiv)

Liebe Marika, ich habe versprochen, dir zu schreiben, sobald Jura frei ist. Nun ist er frei, aber auf andere Art. Er ist nach seiner Entlassung am 24.1. 39 mit Typhusfieber dort in Weimar ins Spital gekommen & am 15.2. daran gestorben. Ich weiß nicht, ob seine Mutter es weiß, schreib ihr nicht. Ich bin vorläufig auch noch am Leben, hoffe aber, es ebenso schnell abzuschütteln.
(Helli Ultmann an Marika Rapoport, am 6.3.1939, via Soyfer Archiv)

Ich esse Sardinen in/
Öl und denke an/Jura Soyfer. Er
war zur falschen Zeit am falschen Ort. Gargellen,
Neunzehnhundertachtunddreißig. Die Sterne stehen schlecht im März; Sie holen Geier vom/beengten 
Himmel. Einer ist vor Jahren (angeschossen) auf ein Dach ins/Tal gestürzt; hat es fast durchschlagen. Ein Täter wurde nie gefasst, was keinen wundert, weil in jedem Haus (dort oben) Jäger wohnen und wo keiner wohnt, da wohnt ein Wilderer und Jura Soyfer war ein Wild (auf der Flucht). Sein Plan: mit Skiern in die Schweiz übers Schlappiner Joch. Im Rucksack: eine Dose mit Sardinen in/Gewerkschaftszeitung eingewickelt. Sehr verdächtig. Und blutjung, der übereifrige Gendarm. Sagt, den Ansturm (wegen eines Geiers) könne er sich nicht erklären. Sagt, TV-Anstalten aus der Schweiz, aus Österreich und Deutschland wären extra angereist, wegen eines toten/Vogels. Sagt, der Akt (zum Vogel) sei noch schmaler als sein kleiner Finger und dass der noch zulegt (zwinkert), wäre wohl nicht anzunehmen —

Während ich Sardinen kaue
(zartes Rückgrat bricht ganz leicht), denke ich an/Jura Soyfer. Ob er sie gegessen hat? Ist natürlich rein rhetorisch. Häftlinge behalten schließlich nie ihr Zeug (noch dazu
in/Hungerzeiten). Und dann ausgerechnet Sardinen in/einer dünnen Weißblechdose, scharf genug für einen/Abgang. Viele haben sich davon gemacht. Mit Gift, mit Schnüren und so weiter. Jura nicht. Er hat bis zum Ende durchgehalten. Geschrieben (Briefe), das bekannte Dachau-Lied: Stich den Spaten in die Erde/
Grab dein Mitleid tief hinein/Und im eignen Schweiße werde/Selber du zu Stahl und Stein. 
Und wenn Hunger dich quält oder Durst, denk’ an alles, Kamerad, nur nicht an/Sardinen 
 —

 

Natürlich denkst du an/
Sardinen (ständig); gefangen im Meer von/Porto, wie Jura gefangen im/Rätikon; von ganz oben
herunter (ins Tal) gebracht, ins Dorf nach/Gargellen. Von dort aus
nach/Bludenz; von dort aus nach/Feldkirch, von dort aus nach/Innsbruck, von dort aus
nach/Dachau, von dort aus ins KZ nach//Buchenau und weiter ins Spital nach/Weimar, wo Jura stirbt, lange vor dem Ablaufdatum von Sardinen, die (nachdem sie einmal ausgenommen, händisch eingelegt in/Öl, verfeinert mit Gewürzen und Gemüse), mindestens fünf Jahre ab/Verpackungsdatum halten —

 

Einhundert Jahre später
oder tausend (falls es noch Sardinen gibt): Würden wir sie wieder essen und an/Jura Soyfer denken? Oder hätten wir alles, alles vergessen und blieben uns (zum Genuss allein) nur scharfe, zarte Sardinen — ?

Sardinen (Jura Soyfer), 2023

Foto: Nuri Sardinen, eigenes Bild, 2023

Jura Soyfer (1912-1939) war ein österreichischer Schriftsteller des Widerstands, der sich nach dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland in die Schweiz absetzen wollte. Die Sardinen (als Reiseproviant) sind verbürgt, allerdings haben sie sich nicht in Juras Rucksack befunden, sondern in dem seines Freundes Hugo Ebner. Beide haben sich damals gemeinsam zur Flucht entschlossen und wurden auch gemeinsam aufgegriffen. Die Verknüpfung ihrer (hier auf eine Person reduzierten) Fluchtgeschichte mit dem illegalen Abschuss eines Geiers in St. Gallenkirch (2019) gründet in der Wahrnehmung, dass die Vernachlässigung von Natur- und Artenschutz in letzter Konsequenz auch Menschenrechte beschädigt (und umgekehrt).

Grundlage für den Text ist das
“Über die Grenze”-Projekt des Jüdischen Museums in Hohenems, bei dem an 52 Hörstationen entlang der Radroute Nr. 1 (vom Bodensee in die Silvretta) Fluchtgeschichten erzählt werden.
Parallel dazu gibt’s (leider nur zwei) hochkarätig besetzte Soyfer-Abende in Hohenems.

Über das Gutenberg-Projekt sind alle Arbeiten von Jura Soyfer
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