
“Sie bewohnte ihr Haus als zweite Schale, als Mauer und Schutz, als Käfig und Bann, als Verlies und als innwendige Freiheit…”
Evi Kliemand über A.M. Jehle, Rede zur Kleinen Retrospektive, Batschuns 2002
Deine wilde Brombeerhecke
hat mich sofort angesprochen; meterlange Triebe,
die/durch ihr Gewicht allein zu Boden sinken, wo sie sofort Wurzeln
schlagen; undurchdringliches Gestrüpp, wie wir es aus Märchen kennen. Statt
dem Schloss, ein verwaistes Bürgerhaus, abgedunkelt, dicht gemacht, garantiert
unbelebter Sauerstoff. Fenster auf! Novemberluft! Wie damals, als du heimgegangen
bist. Heimgegangen? Hirntumor. So oder so wird heimgegangen, überall, immerzu. Altes geht, Neues kommt: Fenster auf! Wir brauchen dringend frische Luft! Wir kriegen keine Luft! Wir kriegen Krebs, wir kriegen Kinder. Also reich mir die Schürze, die/Schoss
(aus Blech) und den Schirm; In seinem Gestänge hängen/kopfüber Rosen,
weil es hier tagein tagaus nur Rosen regnet, nein,
geregnet hat (Vergangenheit) —
Alles muss vergehen, Anne,
hast du’s nicht gewusst? (Na, klar.) Und doch
dagegen angeschrieben? Mit der Strickliesel geschrieben,
Lieblingsworte wie erfolgreich und perfekt (vom vielfachen Gebrauch
weitgehend abgenutzt); Und überm Lavabo, kein Spiegel, nur ich bin daheim.
J Punkt (für Jehle). Auch deine schönen Vornamen, Anne und Marie, stets A Punkt/
M Punkt abgekürzt, weil Kunst nie weiblich oder männlich ist, nur Künstler sind es (notgedrungen). Not? Nein, Anne, keine Not. Die Eltern haben dir ein Haus vermacht
und was-weiß-ich-noch-alles. Du bist frei. Machst, was dir gefällt. Wie Regenbögen.
Am 24. Juni 1985, um 19 Uhr 35, hast du einen festgehalten. Immer wieder und
wieder. Und wie gefällt dir das: den Laden einfach dicht zu machen? Die Kunst,
verpackt; das Haus, versiegelt; die Künstlerin, auf unbestimmte
Zeit verreist. Letztes großes Werk: dein Schweigen.
Hier ist es sicher aufgehoben.
Deine
Verena Laengle
P.S.
Zwischen deinem Haus und meinem
dreht sich schnell und immer schneller (Kopf im Nacken/
Autobahn) ein/Möwen-Karussell!!! Wie sie kreisen, wie sie tauchen,
brauchen keinen Zuspruch, brauchen —
Liebe Anne! (Offener Brief), 2023
Foto: Innenaufnahme des Hauses von Anne Marie Jehle in Feldkirch, Carinagasse 33 (Ausschnitt), 2001, Bernd Blöb mit Nikolaus Walter, © Nachlass Anne Marie Jehle/Kunstmuseum Liechtenstein Vaduz
Der Text bezieht sich auf die vergessene österreichisch/liechtensteinische Künstlerin Anne Marie Jehle (1937 – 2000), die ihr Elternhaus in der Carinagasse 33 in Feldkirch (Vorarlberg) als begehbare Zeitkapsel gestaltet hat, wohl weil ihr Werk in der Heimat auf wenig Resonanz stieß. Ein Jahr nach dem Ableben Jehles (am 19.11.2000) wurde ihr Haus nach zwölfjährigem Dornröschenschlaf geöffnet. Die Kunsthistorikerin Silvia Eiblmayr beschreibt es als feministisches Gesamtkunstwerk und vergleicht es mit dem legendären US-amerikanischen Womanhouse von 1972 (Vgl. Silvia Eiblmayr “A.M. Jehle und ihr alemannisches Womanhouse”, in A.M. Jehle, Vaduz 2019, S.33 ff) Der Nachlass von A.M. Jehle befindet sich heute im Kunstmuseum Liechtenstein. Eine umfassende Biografie der Künstlerin steht bis heute aus. (Vgl. Nina Schedlmayer, Guerilla Girl aus Vorarlberg, artemisia Blog, 2.1.2020).
Auf folgende Werke der Künstlerin wird im Text direkt oder indirekt verwiesen:
Blechschürze, 1977
Schirmgestell mit Rosen (vgl. Foto Stiegenhaus ganz oben), um 1984
“perfekt”, Luftmaschenkette, nicht datiert
“erfolgreich”, Luftmaschenkette, nicht datiert
“Ich bin daheim. J.” Lavabo mit Schriftzug, nicht datiert
Regenbogen-Polaroids (aus dem “Souvenirs”-Schrank), 24.6.1985

“Sie bewohnte ihr Haus als zweite Schale, als Mauer und Schutz, als Käfig und Bann, als Verlies und als innwendige Freiheit…”
Eva Kliemand über A.M. Jehle, Rede zur Kleinen Retrospektive, 2002
Deine wilde Brombeerhecke
hat mich sofort angesprochen; meterlange
Triebe, die/durch ihr Gewicht allein zu Boden sinken,
wo sie sofort Wurzeln schlagen, undurchdringliches Gestrüpp,
wie wir es aus Märchen kennen. Statt dem Schloss, ein verwaistes Bürger-
haus, abgedunkelt, dicht gemacht, garantiert unbelebter Sauerstoff. Fenster
auf! Novemberluft! Wie damals, als du heimgegangen bist. Heimgegangen? Hirntumor. So oder so wird heimgegangen, überall, immerzu; Altes geht, Neues kommt: Fenster auf! Wir brauchen dringend frische Luft; wir kriegen keine Luft! Wir kriegen Krebs. Wir kriegen Kinder! Also reich mir die Schürze, die/Schoss
(aus Blech) und den Schirm; In seinem Gestänge hängen/kopfüber
Rosen, weil es hier tagein tagaus nur Rosen regnet, nein,
geregnet hat (Vergangenheit) —Alles muss vergehen,
Anne, hast du’s nicht gewusst? (Na, klar.)
Und doch dagegen angeschrieben? Mit der Strickliesel
geschrieben, Lieblingsworte, wie erfolgreich und perfekt (vom
vielfachen Gebrauch weitgehend abgenutzt); Und überm Lavabo,
kein Spiegel, nur ich bin daheim. J Punkt (für Jehle). Auch deine schönen
Vorname, Anne und Marie, stets A Punkt/M Punkt abgekürzt, weil Kunst nie weiblich oder männlich ist, nur Künstler sind es (notgedrungen). Not? Nein,
Anne, keine Not. Die Eltern haben dir ein Haus vermacht und was-weiß-ich-
noch-alles. Du bist frei. Machst, was dir gefällt. Wie Regenbögen. Am 24. Juni1985, um 19 Uhr 35, hast du einen festgehalten. Immer wieder und wieder.
Und wie gefällt dir das: den Laden einfach dicht zu machen? Die Kunst,
verpackt; das Haus, versiegelt; die Künstlerin, auf unbestimmte
Zeit verreist. Letztes großes Werk: dein Schweigen.
Hier ist es sicher aufgehoben.
Deine
Verena Laengle
P.S.
Zwischen deinem Haus und meinem,
dreht sich schnell und immer schneller (Kopf im Nacken/
Autobahn), ein/Möwen-Karussell!!! Wie sie kreisen, wie sie tauchen,
brauchen keinen Zuspruch, brauchen —
Liebe Anne! (Offener Brief), 2023
Foto: Innenaufnahme des Hauses von Anne Marie Jehle in Feldkirch, Carinagasse 33 (Ausschnitt), 2001, Bernd Blöb mit Nikolaus Walter, © Nachlass Anne Marie Jehle/Kunstmuseum Liechtenstein Vaduz
Der Text bezieht sich auf die vergessene österreichisch/liechtensteinische Künstlerin Anne Marie Jehle (1937 – 2000), die ihr Elternhaus in der Carinagasse 33 in Feldkirch (Vorarlberg) als Zeitkapsel gestaltet und eigenhändig “versiegelt” hat, wohl weil ihr Werk in der Heimat auf wenig Resonanz stieß. Ein Jahr nach dem Ableben Jehles (am 19.11.2000) wurde ihr Haus (nach zwölfjährigem Dornröschenschlaf) geöffnet. Die Kunsthistorikerin Silvia Eiblmayr beschreibt es als feministisches Gesamtkunstwerk und vergleicht es mit dem legendären US-amerikanischen Womanhouse von 1972 (Vgl. Silvia Eiblmayr “A.M. Jehle und ihr alemannisches Womanhouse”, in A.M. Jehle, Vaduz 2019, S.33 ff) Der Nachlass von Anne Marie Jehle befindet sich im Kunstmuseum Liechtenstein. Eine umfassende Biografie der Künstlerin steht bis heute aus. (Vgl. Nina Schedlmayer, Guerilla Girl aus Vorarlberg, artemisia Blog, 2.1.2020)
Auf folgende Werke der Künstlerin wird im Text direkt oder indirekt verwiesen:
Blechschürze, 1977
Schirmgestell mit Rosen (vgl. Foto Stiegenhaus ganz oben), um 1984
“perfekt”, Luftmaschenkette, ohne Datum
“erfolgreich”, Luftmaschenkette, ohne Datum
“Ich bin daheim. J.”, Lavabo mit Schriftzug, ohne Datum
Regenbogen-Polaroids (aus dem “Souvenirs”-Schrank), 24.6.1985

“Sie bewohnte ihr Haus als zweite Schale, als Mauer und Schutz, als Käfig und Bann, als Verlies und als innwendige Freiheit…”
Eva Kliemand über A.M. Jehle, Rede zur Kleinen Retrospektive, Batschuns 2002
Deine wilde Brombeerhecke hat mich sofort angesprochen; meterlange Triebe, die/durch ihr Gewicht allein zu Boden sinken, wo sie sofort Wurzeln schlagen; undurchdringliches Gestrüpp, wie wir es aus Märchen kennen. Statt dem Schloss, ein verwaistes Bürgerhaus, abgedunkelt, dicht gemacht, garantiert unbelebter Sauerstoff. Fenster auf! Novemberluft! Wie damals, als du heimgegangen bist. Heimgegangen? Hirntumor. So oder so wird heimgegangen, überall, immerzu. Altes geht, Neues kommt: Fenster auf! Wir brauchen dringend frische Luft! Wir kriegen keine Luft! Wir kriegen Krebs, wir kriegen Kinder! Also reich mir die Schürze/die Schoss (aus Blech) und den Schirm; In seinem Gestänge hängen kopfüber Rosen, weil es hier tagein tagaus nur Rosen regnet, nein, geregnet hat (Vergangenheit) —
Alles muss vergehen, Anne, hast du’s nicht gewusst? (Na, klar.) Und doch dagegen angeschrieben? Mit der Strickliesel geschrieben, Lieblingsworte, wie erfolgreich und perfekt (vom vielfachen Gebrauch weitgehend abgenutzt); Und überm Lavabo, kein Spiegel, nur
ich bin daheim J Punkt (für Jehle). Auch Anne und Marie (deine schönen Vornamen) stets A Punkt/M Punkt abgekürzt, weil Kunst nie weiblich oder männlich ist, nur Künstler sind es (notgedrungen)? Not? Nein, Anne, keine Not. Die Eltern haben dir ein Haus vermacht und was-weiß-ich-noch-alles. Du bist frei. Machst, was dir gefällt. Wie Regenbögen. Am 24. Juni 1985, um 19 Uhr 35, hast du einen festgehalten. Immer wieder und wieder. Und wie gefällt dir das: den Laden einfach dicht zu machen? Die Kunst, verpackt; das Haus, versiegelt; die Künstlerin, auf unbestimmte Zeit verreist. Letztes großes Werk: dein Schweigen. Hier ist es sicher aufgehoben.
Deine
Verena Laengle
P.S. Zwischen deinem Haus und meinem dreht sich schnell und immer schneller (Kopf im Nacken/Autobahn) ein/Möwen-Karussell!!! Wie sie kreisen, wie sie tauchen, brauchen keinen Zuspruch, brauchen —
Liebe Anne! (Offener Brief), 2023
Foto: Innenaufnahme des Hauses von Anne Marie Jehle in Feldkirch, Carinagasse 33 (Ausschnitt), 2001, Bernd Blöb mit Nikolaus Walter, © Nachlass Anne Marie Jehle/Kunstmuseum Liechtenstein Vaduz
Der Text bezieht sich auf die vergessene österreichisch/liechtensteinische Künstlerin Anne Marie Jehle
(1937 – 2000), die ihr Elternhaus in der Carinagasse 33 in Feldkirch (Vorarlberg) als begehbare Zeitkapsel gestaltet und eigenhändig “versiegelt” hat, wohl weil ihre Arbeiten in der Heimat auf wenig Resonanz stießen. Ein Jahr nach dem Ableben der Künstlerin (am 19.11.2000) wurde ihr Haus (nach 12jährigem Dornröschenschlaf) geöffnet. Die Kunsthistorikerin Silvia Eiblmayr beschreibt es als feministisches Gesamtkunstwerk und vergleicht es mit dem legendären US-amerikanischen Womanhouse von 1972 (Vgl. Silvia Eiblmayr “A.M. Jehle und ihr alemannisches Womanhouse”, in A.M. Jehle, Vaduz 2019, S.33 ff.) Der Nachlass von A.M. Jehle befindet sich im Kunstmuseum Liechtenstein. Eine umfassende Biografie der Künstlerin steht bis heute aus. (Vgl. Nina Schedlmayer, Guerilla Girl aus Vorarlberg, artemisia Blog, 2. 1. 2020)
Auf folgende Werke der Künstlerin wird im Text direkt oder indirekt verwiesen:
Blechschürze, 1977
Schirmgestell mit Rosen (vgl. Foto Stiegenhaus ganz oben), um 1984
“perfekt”, Luftmaschenkette, nicht datiert
“erfolgreich”, Luftmaschenkette, nicht datiert
“Ich bin daheim. J.” Lavabo mit Schriftzug, nicht datiert
Regenbogen-Polaroids (aus dem “Souvenirs”-Schrank), 24.6.1985