OMG! (Chöre)

DALL·E 2023-01-24 05.54.12 – benedictine monk from behind dancing on a frozen lake, oil painting

War es ein Zeichen, ein Wunder,
ein Gottesbeweis? Schön wie Sirenen und genauso
gefährlich? Gesänge, von den Bergen bis zum Rheinfall, fremd
und verlockend wie tropische Vögel oder Gedichte? OMG! Es ist nur
der Doppler-Effekt. Nichts weiter, wie die Stauchung und Dehnung akustischer
Wellen bei sich veränderndem Abstand zwischen Sender und Empfänger. Eine reine Laufzeit-Sache. Bück dich, nimm dir eine Handvoll Kiesel, wirf sie dann, so weit
es geht, aufs Eis hinaus und untersteh dich, auch wenn’s schwer fällt,
             dem Wunder hinterherzulaufen —

 

Februar, achthundertfünfundsiebzig.
Notker (der Stammler) ist im besten Alter, auch wenn das
aus seinem Mund ganz anders klingt. Wie schnell er seine Kutte rafft!
Wie leicht ihn seine Beine tragen! (von St. Gallen bis zum See) Offiziell, Fisch
besorgen. In Wirklichkeit, Chöre hören. Zurück bei seinen Brüdern, stammelt er
(was denn sonst), der S-s-s-e-e  s-s-singt! OMG! Wie ungerührt sie sitzen bleiben (Rücken krumm, Hände überm Kohlefeuer), so bedächtig, so geschmeidig Zeichen setzend, wie der See sie zweimal in einhundert Jahren überbringt und jetzt nicht
mehr; Nur
Notkers Hymnen. In der Stille seiner Zelle, aus den Bergen heraus
ins ebene Land, sieht er den Schnee sich dehnen wie Sand,
            
darunter schlafende Chöre

 

Was, wenn es gelänge,
unser Zellgedächtnis aufzufrischen? Die Zellen zu
entriegeln, einen Spalt breit aufzutun? OMG! Es heißt, da wären Bibliotheken,
             voll bis obenhin mit Chören —

OMG! (Chöre), 2023

foto: Seegfrörne Bregenz 1963, Oskar Spang, Stadtarchiv Bregenz, CC BY-SA 4.0, via Vorarlberger Landesrepositorium Volare

„aus den Bergen heraus ins ebene Land, sieht er den Schnee sich dehnen wie Sand…“
Zit. aus: Gustav Schwab, Der Reiter und der Bodensee, 1826

In der Stiftsbibliothek St. Gallen (voll bis obenhin mit Chören) werden u.a. Handschriften mit Sequenzen vom St. Galler Mönch Notker Balbulus (dem Stammler) aufbewahrt. Der Überlieferung nach soll ihn das Knarren eines Mühlrads inspiriert haben, also wieso kein singender See? In Notkers Lebenszeit (840 – 912) fällt die erste dokumentierte Seegfrörne von 875 (und die zweite von 895!) Ob Teile des Sees schwarz gefroren waren (d.h. ohne eine Schneedecke, die akustische Phänomene dämpft), ist nicht überliefert.

DALL·E 2023-01-24 05.54.12 – benedictine monk from behind dancing on a frozen lake, oil painting

War es ein Zeichen, ein Wunder,
ein Gottesbeweis? Schön wie Sirenen und genauso
gefährlich? Gesänge, von den Bergen bis zum Rheinfall, fremd
und verlockend wie tropische Vögel oder Gedichte? OMG! Es ist nur
der Doppler-Effekt. Nichts weiter, wie die Stauchung und Dehnung akustischer Wellen bei sich veränderndem Abstand zwischen Sender und Empfänger. Eine reine Laufzeit-Sache. Bück dich, nimm dir eine Handvoll Kiesel, wirf sie dann, so weit es geht, aufs Eis hinaus und untersteh dich, auch wenn’s schwer fällt,
             dem Wunder hinterherzulaufen —

 

Februar, achthundertfünfundsiebzig.
Notker (der Stammler) ist im besten Alter, auch wenn das
aus seinem Mund ganz anders klingt. Wie schnell er seine Kutte rafft!
Wie leicht ihn seine Beine tragen! (von St. Gallen bis zum See) Offiziell, Fisch

besorgen. In Wirklichkeit, Chöre hören. Zurück bei seinen Brüdern, stammelt
er (was denn sonst), der S-s-see s-s-singt! OMG! Wie ungerührt sie sitzen bleiben (Rücken krumm, Hände überm Kohlefeuer), so bedächtig, so geschmeidig Zeichen setzend, wie der See sie zweimal in einhundert Jahren überbringt und jetzt nicht mehr; Nur
Notkers Hymnen. In der Stille seiner Zelle, aus den Bergen
heraus
ins ebene Land, sieht er den Schnee sich dehnen wie Sand,
             darunter schlafende Chöre —

 

Was, wenn es gelänge,
unser Zellgedächtnis aufzufrischen? Die Zellen zu entriegeln, einen
Spalt breit aufzutun? OMG! Es heißt, da wären Bibliotheken,
             voll bis obenhin mit Chören —

OMG! (Chöre), 2023

foto: Seegfrörne Bregenz 1963, Oskar Spang, Stadtarchiv Bregenz, CC BY-SA 4.0, via Vorarlberger Landesrepositorium Volare

„aus den Bergen heraus ins ebene Land, sieht er den Schnee sich dehnen wie Sand…“ Zit. aus: Gustav Schwab, Der Reiter und der Bodensee, 1826

In der Stiftsbibliothek St. Gallen (voll bis obenhin mit Chören) werden u.a. Handschriften mit Sequenzen vom St. Galler Mönch Notker Balbulus (dem Stammler) aufbewahrt. Der Überlieferung nach soll ihn das Knarren eines Mühlrads inspiriert haben, also wieso kein singender See? In Notkers Lebenszeit (840 – 912) fällt die erste dokumentierte Seegfrörne von 875 (und die zweite von 895). Ob Teile des Sees schwarz gefroren waren (d.h. ohne eine Schneedecke, die akustische Phänomene dämpft), ist nicht überliefert.

DALL·E 2023-01-24 05.54.12 – benedictine monk from behind dancing on a frozen lake, oil painting

War es ein Zeichen, ein Wunder, ein Gottesbeweis? Schön wie Sirenen und genauso gefährlich? Gesänge, von den Bergen bis zum Rheinfall, fremd und verlockend wie tropische Vögel oder Gedichte? OMG! Es ist nur der Doppler-Effekt. Nichts weiter, wie die Stauchung und Dehnung akustischer Wellen bei sich veränderndem Abstand zwischen Sender und Empfänger. Eine reine Laufzeit-Sache. Bück dich, nimm dir eine Handvoll Kiesel, wirf sie, so weit es geht, aufs Eis hinaus und untersteh dich, auch wenn’s schwer fällt, dem Wunder hinterherzulaufen —

 

Februar, achthundertfünfundsiebzig. Notker, der Stammler, ist im besten Alter, auch wenn das aus seinem Mund ganz anders klingt. Wie schnell er seine Kutte rafft! Wie leicht ihn seine Beine tragen! (von St. Gallen bis zum See) Offiziell, Fisch besorgen. In Wirklichkeit, Chöre hören. Zurück bei seinen Brüdern, stammelt er (was denn sonst), der S-S-See s-s-singt! OMG! Wie ungerührt sie sitzen bleiben, Rücken krumm, Hände überm Kohlefeuer, so bedächtig Zeichen setzend, so geschmeidig, wie der See sie zweimal in einhundert Jahren überbringt und jetzt nicht mehr; Nur Notkers Hymnen. In der Stille seiner Zelle, aus den Bergen heraus ins ebene Land, sieht er den Schnee sich dehnen wie Sand, darunter schlafende Chöre —

 

Was, wenn es gelänge, unser Zellgedächtnis aufzufrischen? Die Zellen zu entriegeln, nur einen Spalt breit aufzutun? OMG! Es heißt, da wären Bibliotheken, voll bis obenhin mit Chören —

OMG! (Chöre), 2023

foto: Seegfrörne Bregenz 1963, Oskar Spang, Stadtarchiv Bregenz, CC BY-SA 4.0, via Vorarlberger Landesrepositorium Volare

„aus den Bergen heraus ins ebene Land, sieht er den Schnee sich dehnen wie Sand…“
Zit. aus: Gustav Schwab, Der Reiter und der Bodensee, 1826

In der Stiftsbibliothek St. Gallen (voll bis obenhin mit Chören) werden u.a. Handschriften mit Sequenzen vom St. Galler Mönch Notker Balbulus (dem Stammler) aufbewahrt. Der Überlieferung nach soll ihn das Knarren eines Mühlrads inspiriert haben, also wieso kein singender See? In Notkers Lebenszeit (840 – 912) fällt die erste dokumentierte Seegfrörne von 875 (und die zweite von 895). Ob Teile des Sees schwarz gefroren waren (d.h. ohne eine Schneedecke, die akustische Phänomene dämpft), ist nicht überliefert.