Sich beugen

Kanisfluh Nordflanke by Friedrich Böhringer, via Wikimedia Commons

Hier der See, dort die Berge;
eine vage Ortsangabe. Wo wir sind und wer wir sind
wird leicht (vielleicht zu leicht) verwechselt. Sind wir doch alle
nicht zu nah und nicht zu fern derselben Sonne (einer unter vielen Sonnen),
gut versteckt in einer
(unter hundertausend) Galaxien und nahezu unsichtbar in
einem Supercluster (von vermutlich vielen): Laniakea. Es ist ein unermesslicher Himmel, der sich im See wiederspiegelt; in dieser langgstreckten Lacke, in der sich (wie in einer Linse) unsre Erde so stark krümmt, dass wir,
am jeweils andern Ufer, uns niemals
in die Augen sehen. Dazu gibt’s Berge. Alles rennt hinauf.
Zum Sonnenaufgang
finden wir uns Aug in Aug mit einem Steinbock. Seine Iris
             leuchtet fremd; vor quergestellten Pupillen —

Jeder kennt den Riesen,
der bis zur Stirn in unsrer Erde steckt. Hinter ihm,
eine am Höhepunkt erstarrte Welle, die ab und zu mit Schnee
herunterbricht. Ein Riese auf der Flucht. Zu gerne hätten wir ihn (auf der Flucht)
am Bart gepackt (an seiner Wirmsul*, bis sie bricht) und ihm sein ganzes Kies geklaut. Nur sind die Leute hier
dagegen, weil dieser Berg heilig sei. Tabu und unantastbar.
Hier leben also Menschen, die sich solchen Worten beugen.
             Wie schön und wie gefährlich.

Sich beugen, 2022                                    

foto: Alpensteinbock (Capra ibex) by Paolino Massimiliano Manuel, via istockphoto.com

Der Text bezieht sich auf das Bergmassiv Kanisfluh im Bregenzerwald (Vorarlberg, Österreich), das 2020 auf Druck einer landesweiten Bürgerbewegung unter Landschaftsschutz gestellt wurde, um den heiligen Berg dauerhaft vor wirtschaftlichen Interessen zu schützen.

*Die Wirmsäule (Wirmsul) ist ein Felspfeiler an der Nordseite der Kanisfluh und steht mit ihrem sagenhaften Erbauer in Verbindung. Der Riese Wirm wollte den schönsten aller Berge erbauen, verzweifelt am Ende darüber und stürzt sich zu Tode. Die Wirmsul markiert sein Grab.

Kanisfluh Nordflanke by Friedrich Böhringer, via Wikimedia Commons

Hier der See, dort die Berge;
eine vage Ortsangabe. Wo wir sind und
wer wir sind wird leicht (vielleicht zu leicht) verwechselt.
Sind wir doch alle
nicht zu nah und nicht zu fern derselben Sonne (einer
unter vielen Sonnen), gut versteckt in einer
(unter hundertausend) Galaxien
und nahezu unsichtbar in einem Supercluster (von vermutlich vielen): Laniakea. Es ist ein unermesslicher Himmel, der sich im See wiederspiegelt; in dieser langgstreckten Lacke, in der sich (wie in einer Linse) unsre Erde so stark krümmt, dass wir,
am jeweils andern Ufer, uns niemals in die Augen sehen. Dazu
gibt’s Berge. Alles rennt hinauf.
Zum Sonnenaufgang finden wir
uns Aug in Aug mit einem Steinbock. Seine Iris leuchtet
             fremd; vor quergestellten Pupillen —

 

Jeder kennt den Riesen,
der bis zur Stirn in unsrer Erde steckt. Hinter ihm,
eine am Höhepunkt erstarrte Welle, die ab und zu mit Schnee
herunterbricht. Ein Riese auf der Flucht. Zu gerne hätten wir ihn (auf der
Flucht) am Bart gepackt (an seiner Wirmsul*, bis sie bricht) und ihm sein ganzes Kies geklaut. Nur sind die Leute hier
dagegen, weil dieser Berg heilig sei. Tabu
und unantastbar. Hier leben also Menschen, die sich solchen Worten
             beugen. Wie schön und wie gefährlich.

Sich beugen, 2022                                    

foto: Alpensteinbock (Capra ibex) by Paolino Massimiliano Manuel, via istockphoto.com

Der Text bezieht sich auf das Bergmassiv Kanisfluh im Bregenzerwald (Vorarlberg, Österreich), das 2020 auf Druck einer landesweiten Bürgerbewegung unter Landschaftsschutz gestellt wurde, um den heiligen Berg dauerhaft vor wirtschaftlichen Interessen zu schützen.

*Die Wirmsul (Wirmsäule) ist ein Felspfeiler an der Nordseite der Kanisfluh und steht mit ihrem sagenhaften Erbauer in Verbindung. Der Riese Wirm wollte den schönsten aller Berge erbauen, verzweifelt am Ende darüber und stürzt sich zu Tode. Die Wirmsul markiert sein Grab.

Kanisfluh Nordflanke by Friedrich Böhringer, via Wikimedia Commons

Hier der See, dort die Berge;
eine vage Ortsangabe. Wo wir sind und wer wir sind wird leicht (vielleicht zu leicht) verwechselt. Sind wir doch alle
nicht zu nah und nicht zu fern derselben Sonne (einer unter vielen Sonnen), gut versteckt in einer (unter hundertausend) Galaxien und nahezu unsichtbar in einem Supercluster (von vermutlich vielen): Laniakea. Es ist ein unermesslicher Himmel, der sich im See wiederspiegelt; in dieser langgstreckten Lacke, in der sich (wie in einer Linse) unsre Erde so stark krümmt, dass wir, am jeweils andern Ufer, uns niemals in die Augen sehen. Dazu gibt’s Berge. Alles rennt hinauf. Zum Sonnenaufgang finden wir uns
Aug in Aug mit einem Steinbock. Seine Iris leuchtet fremd; vor quergestellten Pupillen  —

 

Jeder kennt den Riesen,
der bis zur Stirn in unsrer Erde steckt. Hinter ihm, eine am Höhepunkt erstarrte Welle, die ab und zu mit Schaum herunterbricht. Ein Riese auf der Flucht. Zu gerne hätten wir ihn (auf der Flucht) am Bart gepackt (an seiner Wirmsul*, bis sie bricht) und ihm sein ganzes Kies geklaut. Nur sind die Leute hier
dagegen, weil dieser Berg heilig sei. Tabu und unantastbar. Hier leben also Menschen, die sich solchen Worten beugen. Wie schön und wie gefährlich.

Sich beugen, 2022                                    

foto: Alpensteinbock (Capra ibex) by Paolino Massimiliano Manuel, via istockphoto.com

Der Text bezieht sich auf das Bergmassiv Kanisfluh im Bregenzerwald (Vorarlberg, Österreich), das 2020 auf Druck einer landesweiten Bürgerbewegung unter Landschaftsschutz gestellt wurde, um den heiligen Berg dauerhaft vor wirtschaftlichen Interessen zu schützen.

*Die Wirmsul (Wirmsäule) ist ein Felspfeiler an der Nordseite der Kanisfluh und steht mit ihrem sagenhaften Erbauer in Verbindung. Der Riese Wirm wollte den schönsten aller Berge erbauen, verzweifelt am Ende darüber und stürzt sich zu Tode. Die Wirmsul markiert sein Grab.